Inhaltsangabe

Im November 2018 besuchte Ethan Bensinger Fulda, um an den Gedenkfeiern zur Pogromnacht teilzunehmen. Vor der Gedenkfeier versammelten sich Nachkommen von Fuldaer Familien, um einen kleinen Gebetsraum auf dem Friedhof umzuwidmen. Dort befragte ein Zeitungsreporter Ethan über seine Verbindung zu Fulda. Ethan erzählte von seinen Wurzeln, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, den Anfängen der jüdischen Gemeinde von Fulda. Er erzählte von seiner Mutter Rachel, einer glühenden Zionistin, die Fulda 1935 in Richtung Palästina verließ, und von seinen Großeltern, die nur wenige Tage vor der Pogromnacht aus Fulda flüchteten. Er erzählte auch von seinem letzten in Fulda verbliebenen Familienmitglied, seinem Großonkel Hugo Sichel, der 1941 deportiert und ermordet wurde.

Einige Tage später las Hedi Römhild Schuhej, eine 82-jährige Fuldaerin, den Artikel über die Wiedereinweihung des Gebetsraums und das Interview mit Ethan. Sie erkannte sofort den Namen Hugo Sichel und wusste, dass sie zwei Tischdecken besaß, die Hugo ihrem Vater Paul geschenkt hatte. Um seine Freundschaft mit Hugo zu ehren, hatte Paul die Tischdecken nie benutzt und seine Töchter gebeten, dies ebenfalls nicht zu tun. Sie hielten sich die nächsten sechzig Jahre an den Wunsch ihres Vaters und ehrten das Andenken an Hugo.

Frau Schuhej beschloss die Tischdecken an Familie Bensinger zurückzugeben und nahm Kontakt mit Ethan in Chicago auf. Während eines Telefongesprächs mit Frau Schuhej erfuhr Ethan nicht nur die Geschichte der Tischtücher. Als der Jüdischen Gemeinde in Fulda nur noch wenige Lebensmittelrationen zur Verfügung standen, bat Paul Römhild seinen guten Freund Hugo, tagsüber zu ihm nach Hause zu kommen, damit er für Essen sorgen konnte. Und als die Nachbarn drohten, die Polizei zu rufen, weil ein Jude bei den Römhilds gesehen wurde, bat Paul darum, dass Hugo nachts heimlich zu ihm nach Hause kommt. Pauls mutiges Handeln brachte ihn und seine junge Familie zweifellos in Gefahr, denn die Nazi-Bestimmungen verboten es Nicht-Juden, sich mit Juden zu verbrüdern oder ihnen Hilfe und Trost zu spenden.

Ethan war der Meinung, dass ein telefonisches oder schriftliches Dankeswort an Frau Schuhej nicht ausreichen würde. Schnell wurde der Entschluss gefasst, dass Ethan, seine Töchter Karen und Jennifer sowie seine Frau Elizabeth nach Fulda reisen würden, um die Tischdecken entgegenzunehmen und ihre tiefe Dankbarkeit persönlich zu übermitteln. Die Familie Bensinger traf im Februar 2019 in Fulda ein.

Ein Gespräch mit Ethan Bensinger:

Warum haben Sie diesen Film gemacht?

In meinem letzten Film Refuge habe ich mich auf jüdische Opfer konzentriert, insbesondere auf die Erfahrungen von sechs Überlebenden vor, während und nach dem Holocaust. Mit meinem neuen Film erweitern wir den Blickwinkel, indem wir anhand einer Kleinstadt, die den meisten anderen deutschen Städten und Dörfern nicht unähnlich ist, untersuchen, wie der “einfache Mann” im Rahmen des Naziregimes reagiert hat. Und wir haben gelernt, dass nicht jeder ein Judenhasser war. Fulda hatte seinen Anteil an Täter*innen und Zuschauer*innen, aber vor allem auch mindestens einen Aufrechten. Das ist eine besonders wichtige Botschaft für unser Publikum: Es gab rücksichtslose Menschen, viele waren gleichgültig, und doch waren einige mitfühlend und taten das Richtige. Wir haben uns dafür entschieden, das Thema “Güte” in dem Film zu untersuchen.

Während des Besuchs unserer Familie erfuhren wir, dass das politische Establishment Fuldas in den 1930er und 40er Jahren den Nazis zugeneigt war und dass sich einige aktiv an der Verbrennung der Synagoge in der Pogromnacht beteiligten. Aus Gründen der Rechenschaftspflicht haben wir darauf geachtet, einige dieser Funktionäre im Film namentlich zu nennen. Und zwei jüdische Augenzeugen, Martin Löwenberg und Arno Goldschmidt, beschreiben anschaulich die Misshandlung von Juden in jener schicksalhaften Nacht. Ihre Aussagen bilden einen wichtigen Kontrast zu Frau Schuhejs Schilderung, wie ihr Vater sich und seine junge Familie in Gefahr brachte, indem er Hugo mit Lebensmitteln versorgte, als die Lage für die Juden in Fulda immer schlimmer wurde. Paul Römhild war ein Aufrechter, er hat sich dem Naziregime widersetzt, er hat das Richtige getan. Wir wollten aber auch vermitteln, dass viele Fuldaer Bürger*innen einfach nur zusahen, wie Jüdinnen und Juden misshandelt und später zum Bahnhof getrieben wurden. Obwohl das von uns verwendete Foto aus einer anderen Kleinstadt stammt, waren wir der Meinung, dass die Rolle der Zuschauenden am besten durch das aussagekräftige Bild der Nachbarn zum Ausdruck kommt, die aus ihren Fenstern schauen, während Nazibeamte die jüdischen Einwohner*innen aus dem Gebäude führen.

Historiker*innen haben gesagt, dass die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg “ordentlich” und manchmal freundschaftlich waren, aber häufig nur auf geschäftlicher Basis. Wir glauben, dass es wichtig ist, unserem Publikum mitzuteilen, dass die Beziehung zwischen Hugo und Paul viel persönlicher und tiefer war. Frau Schuhej macht deutlich, dass ihr Vater ihr seinen Sinn für Mitgefühl und Respekt vor der Erinnerung vermittelt hat. Paul Römhild erzählte seinen Kindern die Geschichte seiner Freundschaft mit Hugo, seine selbstlose Sorge um das Wohlergehen seines Freundes und seine vergeblichen Bemühungen bei der Suche nach Hugo nach dem Krieg. Die Kinder lernten von ihrem Vater, dass es wichtig ist, Hugos Andenken in Ehren zu halten, indem sie dafür sorgten, dass die Tischdecken, die sie geschenkt bekamen, niemals beschmutzt oder durch Gebrauch beschädigt wurden. In deutschen Familien wird nicht oft über die Vergangenheit gesprochen, aber Paul Römhild legte Wert darauf, seiner Familie seine Liebe zu seinem jüdischen Freund mitzuteilen.

Welche Botschaften haben Sie für das Publikum?

Vor diesem Hintergrund wollen wir vermitteln, dass Paul Römhild als Aufrechter ein Vorbild ist. Wenn junge Menschen seine Beweggründe verstehen, sollten sie auch das Richtige tun, wenn sie Unrecht sehen. Das bedeutet vor allem, in alltäglichen Situationen nicht tatenlos zuzusehen. Schauen Sie nicht weg, machen Sie es wie Paul Römhild und treten Sie für das ein, was richtig ist.

Aus pädagogischer Sicht wollen wir, dass junge Menschen in Fulda erfahren, was in ihrer Heimatstadt passiert ist. So oft wurden diese Tatsachen verdrängt oder bestenfalls übersehen. Und die Menschen in anderen Teilen Deutschlands können dieselben Lehren aus der Pogromnacht und den Deportationen ziehen und sie auf ihre lokale Situation anwenden. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass während der Pogromnacht etwa 250 Synagogen niedergebrannt, über 7000 Geschäfte verwüstet und 30.000 jüdische Männer in Konzentrationslager geschickt wurden. Wir hoffen, dass dieser Film junge Menschen dazu anregt, Fragen an ihre Familienmitglieder zu stellen oder in ihren örtlichen Archiven nach Aufzeichnungen und Zeitungen zu suchen, um besser zu verstehen, was mit der lebendigen jüdischen Gemeinde in ihrer Stadt vor dem Krieg geschah.

Obwohl der Film natürlich auch Erwachsenen als Lernmöglichkeit dienen soll, gibt es noch eine weitere spezifische Botschaft, die wir ihnen vermitteln möchten. Der Film erzählt von der Versteigerung der persönlichen Gegenstände der Juden nach ihrer Deportation. Vielleicht hat ein Familienmitglied einen Gegenstand ersteigert, oder, wie bei den Romhilds, gab es ein Geschenk von einem jüdischen Freund. Schauen Sie sich bei Ihnen zu Hause um: Hat Ihnen schon einmal jemand eine Geschichte über einen bestimmten Gegenstand in Ihrer Wohnung erzählt? Gibt es einen Gegenstand der symbolisch für das Judentum ist? Etwas, das in Verbundenheit zu einem jüdischen Menschen über Jahrzehnte in der Familie aufbewahrt wurde? Vielleicht gibt es in Ihrer Stadt ein Museum, dem der Gegenstand, auch anonym, gespendet werden könnte.

Indem Sie einen Gegenstand, den Sie in Ihrer Wohnung gefunden haben, zurückgeben oder einem Museum schenken, handeln Sie im selbstlosen Geist von Hedi Schuhej. Die Rückgabe der Tischtücher an die Familie Bensinger war der Inbegriff einer Wiedergutmachung, die ohne Zögern und ohne zu fragen geleistet wurde. Frau Schuhej folgte dem Beispiel des Mitgefühls ihres Vaters; sie öffneten ihr Herz. Und davon können wir alle lernen.